Ein Ritual prägte von nun an jeden Ausgang mit dem verliebten Jüngling. Kaum hatte man das Gartentor geöffnet, spurtete er hinaus und geradewegs durchs Tor der Nachbarn. Deren Haus lag etwas oberhalb der Straße auf einem kleinen Hang. In Windeseile lief Joschi die Einfahrt hoch, um zu sehen, ob sich seine Herzensdame gerade draußen aufhielt. War dies der Fall, scharwenzelte er ein paar Mal um sie herum, stupste sie an und hüpfte schwanzwedelnd neben ihr her. Erst unser lauter Pfiff riss ihn aus seiner Leidenschaft. Nach einer kurzen Verabschiedung von seiner Liebsten sauste er auf der anderen Seite des Hauses die Wiese hinunter und sprang mit einem Riesensatz über den Zaun, der aus einem Mauersockel mit Holzgitter bestand, auf den Gehsteig hinaus. Hier wartete bereits der jeweilige "Spaziergänger" aus unserer Familie und man konnte den Weg gemeinsam fortsetzen. War seine Freundin nicht im Garten, kam er als erster an dieser Stelle an und wartete - und wir hätten schwören können mit leidvoller Miene- auf uns.
Eines Morgens im Winter machte ich mich mit ihm auf den Weg ins Dorf. Es war nass und kalt, eine dünne Eisschicht hatte sich auf der Straße und an den Gehwegen gebildet. Joschi nahm wie immer seinen Weg über das Nachbargrundstück. Bei dieser Kälte hatte die feine Pudeldame aber wohl keine Lust auf frische Luft verspürt, deswegen lief Joschi lief den Hang hinab und wie immer mit einem Sprung über den Zaun auf den Gehweg hinaus. Da dieser unglücklicherweise noch nicht gestreut war, schlitterte er darüber hinaus und landete mitten auf der Fahrbahn. Der Fahrer des herankommenden Autos sah ihn zwar noch rechtzeitig, die Straßenglätte verhinderte aber das sofortige Anhalten des Autos und so rutschte Joschi geradewegs auf dessen vorderen Kotflügel. Er wurde auf den Gehweg zurückgeworfen, rappelte sich aber sofort wieder auf und lief voller Schreck davon.
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Der geschockte Autofahrer stieg aus seinem Fahrzeug und gemeinsam hielten wir Ausschau nach dem verunglückten Hund. Doch Joschi war nirgends zu sehen. Wir vermuteten, dass er unverletzt wäre, da er noch so schnell hatte weggelaufen können. Nach einer 10-minütigen Wartezeit ging ich wieder nach Hause, in der Hoffnung, dass Joschi auf einem anderen Weg heimgekommen wäre. Doch als er auch hier nicht war, suchte die ganze Familie in den nächsten Stunden die Umgebung ab - aber Joschi blieb verschwunden.
Unsere Suche hatte sich schnell im Dorf herumgesprochen. Am Nachmittag erhielten wir einen Anruf eines Bekannten, der Joschi angeblich eine Stunde zuvor in einem Feld am Dorfrand sitzen gesehen hatte. Er hätte sich nichts dabei gedacht, sage er, da er uns in der Nähe vermutet hatte. Jetzt, nachdem er von der Suche erfahren hatte, wollte er uns natürlich Bescheid geben. Sofort setzten wir uns ins Auto und fuhren zur angegebenen Stelle. Die Enttäuschung war groß, als wir ihn auch hier nicht fanden. Trotzdem gingen wir die angrenzenden Felder ab, denn es war mittlerweile schon dämmerig geworden und man konnte nicht mehr weit sehen. Und plötzlich entdeckten wir unseren Joschi. Er lag im Schnee, reagierte aber nicht sofort auf unser Rufen. Erst als wir in unmittelbarer Nähe waren, stand er langsam auf und kam in unterwürfiger Haltung auf uns zu. Offensichtlich glaubte er, dass er etwas Schlimmes angestellt hätte. Denn erst als er unsere Freude spürte, fing er an schneller zu laufen. Man sah aber sofort, dass ihm dies nur unter Schmerzen möglich war. Vorsichtig packten wir ihn in eine warme Decke und fuhren zum Tierarzt. War die Freude schon groß, als wir ihn gefunden hatten, wuchs sie ins riesige, als der Tierarzt sagte, dass unser Joschi zwar sehr unterkühlt und sein ganzer Körper durch starke Prellungen lädiert sei, aber er weder einen Knochenbruch noch innere Verletzungen davongetragen hätte! Die folgenden Tage verbrachte Joschi, umhätschelt von der ganzen Familie, auf seiner Decke im Wohnzimmer und man sah ihm an, dass jede Bewegung qualvoll war.
Doch bei seinem ersten Spaziergang nach dem Unfall war er sofort wieder auf dem Nachbargrundstück und wollte seine Liebste besuchen. Voller Bangen und bereit jedes ankommende Auto zu stoppen, wartete ich auf dem Gehweg an der Stelle, wo er normalerweise über den Zaun gesprungen kam. Doch unser liebeskranke Hund war nicht nur treu, sondern auch klug. Nachdem er die Pudeldame nicht angetroffen hatte, verzichtete er auf den gewagten Sprung über den Zaun. Er lief denselben Weg, den er gekommen war, zurück und folgte mir brav auf dem Gehsteig. Er war also aus Schaden klug geworden - jedenfalls für die nächsten Monate!
Offensichtlich verschwand mit der Zeit das Erlebnis aus seinem Gedächtnis, denn als der Sommer kam, wagte er zum ersten Mal wieder seinen Sprung. Beschwingt durch die sommerlichen Triebe und dem kurzen Treffen mit der Geliebten, fühlte er sich wohl wieder stark genug. Und er sprang noch viele Jahre, bis seine Herzensdame eines Tages starb. Nach vielen vergeblichen Besuchen mied er das Nachbargrundstück und litt wochenlang. Aber irgendwann gefiel ihm dann doch noch die Kleine vom Bäcker …
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